Dienstag, 4. November 2014

Unser Hausmeister Erich Honecker




Als ich gefragt wurde, ob ich was zum Thema Mauerfall und Wende machen könnte, dachte ich, die ganzen hard facts sind ja eh gerade in aller Munde, also gibt’s heute einfach mal eine etwas persönlichere Sicht auf dieses historische Datum.
Am 9. November 1989 habe ich meinen neunten Geburtstag gefeiert. Ich erinnere mich noch genau, wie ich mit meinen Eltern abends vor dem Fernseher saß und ganz gebannt die Bilder von der Grenzöffnung gesehen habe und ich dachte wirklich, dass alle meinen Geburtstag feiern.
Damals war ich natürlich noch viel zu klein und konnte das alles gar nicht richtig verstehen.
Ich bin direkt an der Mauer in Berlin Mitte in der Ackerstraße großgeworden. Für mich war das ganz normal, dass unsere Straße an einer Mauer endete und da Soldaten mit ihren Gewehren patrouillierten. Ich fand es nur doof, dass man uns nicht einfach besuchen konnte, weil man ohne Passierschein nicht so nah an die Mauer durfte. Wir haben ganz oben gewohnt und von meinem Fenster aus, konnte ich in den Westen schauen. Meine Eltern haben mal ärger bekommen, weil ich im Kindergarten irgendwas gemalt habe, was wie ein CocaCola Logo aussah, als dann herauskam, dass ich das von einer Werbetafel auf der anderen Seite der Mauer gesehen habe, war das damit wohl geklärt. Ich dachte auch immer Erich Honecker sei unser Hausmeister. Damals sahen irgendwie alle alten Männer für mich aus wie Erich Honecker, so auch unser Hausmeister aus dem Kindergarten. Überall, in allen öffentlichen Gebäuden, hingen diese Bilder von Erich Honecker und meine Mutter erzählte mir mal die Anekdote, wie wir in die Post kamen und ich zu so einem Bild gesagt hätte: schau mal unser Hausmeister hängt hier auch. Ich glaube ich habe erst an dem Abend der Wende mitbekommen das Erich Honecker eigentlich ein wichtiger Politiker war.
Das traumatischste für mich im Zusammenhang mit der Wende, war die bittere Erkenntnis, dass ich für immer Jungpionier bleiben sollte, also das heißt, dass ich niemals das rote Halstuch bekomme und damit zu den Großen, zu den Ernst-Thälmann Pionieren, gehören durfte. Das verfolgt mich unbewusst immer noch, nicht zu den Großen dazu zugehören.
Mit der Wende begann eine Zeit des Schämens, ich weiß nicht ob es eher etwas mit dem aufkommen meiner Pubertät zu tun hatte, aber ich weiß noch, im Westen war alles schöner, schicker, leuchtender und toller und ich wollte auf gar keinen Fall als Ossi entlarvt werden. Meine Sachen waren hässlich und im Osten war alles grau und dunkel. Heute ist es andersrum, ich vermisse richtig das Berlin der 90er – mein dreckiges graues zerfallenes Berlin-Mitte mit den Hinterhof-Keller-Künstlerpartys und den leeren Straßen mit den orangefarbenen Laternenlicht und den riesigen Altbau Wohnungen, wo Leninbüsten als Kerzenständer standen.
Vielleicht hatte das auch was mit dem Aufkommen meiner Jugendzeit zu tun – aber die Straßen Berlins rochen nach Freiheit und unendlichen Möglichkeiten, nach Punk und Kunst, Philosophie und Poesie.

Das verrückteste für mich an der Wende war die radikale Vernichtung mit allem was auch nur annähernd irgendwas mit der DDR zu tun hatte – somit wurde nach und nach nicht nur der Ort meiner Kindheit ausradiert, sondern auch die Dinge und Produkte aus meiner Kindheit. Und so geht es ja nicht nur meiner Genration, sondern auch der meiner Eltern und meiner Großeltern.
Nun möchte ich gerne mal die Frage in den Raum werfen:
Wie kann man auf den Spuren seiner Vergangenheit wandeln, wenn all die Dinge, die Erinnerungen auslösen können, verschwunden sind? Also jetzt mal in Anlehnung an Marcel Prousts „ Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, was bedeutet das für ein Leben, wenn die Auslöser fehlen, die bestimmte Erinnerungen wecken können???
Diese Frage kann ich nicht beantworten, aber vielleicht kann man ja mal darüber nachdenken...

Montag, 1. September 2014

Der Unsichtbare Apfel

hier zum reinhören:

http://www.mixcloud.com/multicultfm/rubrik-martjes-kritiritik-%C3%A4pfel-und-sterne-robert-gwisdek/




Der Herbst kommt und zur Einstimmung gibt's heute ein Buchtip für einen herbstlichen Schmöker mit dem man sich hinter den Ofen verkriechen kann. Er heißt der „Der Unsichtbare Apfel“ und ist der Debütroman von Robert Gwisdek alias auch bekannt als Käptn Peng. Der Berliner HipHopper ist ja bekannt für seine intelligente Wortakrobatik, und jetzt gibt es ein ganzes Buch von ihm. Man könnte sagen es ist eine Art Entwicklungsroman, aber eher im metaphysischen Sinne. Er beschreibt einen radikalen Selbstfindungsprozeß. Der Junge Igor wird zum jungen Mann, der auf der Suche nach dem Frieden mit sich Selbst und der Welt ist und sich dabei einem verrückten Experiment aussetzt. Für 100 Tage schließt er sich in einen dunklen und geräuschlosen Raum ein, um seinen Geist an der Nicht-Information zerschellen zu lassen. Gwisdek beschreibt auf eine sehr metaphorische und wortspielerische Art diese quälende Unruhe eines Menschen, der versucht sich selbst los zu werden, um sich selbst zu finden. Durch Formen geistiger Anstrengung durchläuft er eine Reihe schon an Wahnsinn grenzender Prozesse. Er beschreibt fast Gleichnishaft diese Zustände, die wie Traumbilder oder Rätsel klingen. Und es erinnert beim lesen an eine bestimmte Form von Meditation in die er sich begibt.
Beim lesen fühlte ich mich auch oft an Gedanken von Nietzsche oder Kierkegard erinnert, wenn zum Beispiel Gwisdek schreibt: „In meinem Bauch trage ich einen tanzende Apfel, der zu groß geworden ist, um ihn zu gebären.“ In Nietzsches Zarathustra heißt es: „Man muss noch Chaos in sich tragen um einen tanzenden Stern gebären zu können.“ Der Apfel, der gerne als Symbol für Erkenntnis steht, ist hier die Sehnsucht nach Selbsterkenntnis. Der Apfel ist das Chaos und ein Stern ist noch nicht am Himmel, denn der Weg dahin ist hart und anstrengend.
Und genau aus diesem Grund stehe ich diesem Roman etwas zwiespältig gegenüber. Es ging sich sehr gut an, doch in der Mitte des Romans wurde es immer schwieriger für mich dranzubleiben und es erscheint mir, als wären es zwei Unterschiedliche Teile, der Anfang und die Mitte des Romans von verschiedener Art. Die Geschichte wird plötzlich immer absurder und es ist klar, dass es hier nicht um eine Geschichte im herkömmlichen Sinne geht, sondern um die Beschreibung von Zuständlichkeiten, die dieses innere Chaos eines Menschen beschreiben. Die Gleichnisse, die an Traum- oder Alptraumbilder erinnern, sind nicht mehr logisch, sondern rein emotional nur noch zu verstehen. Und da beginnt der Roman, also zumindest für mich, tatsächlich tricky zu werden, denn es strengt ungemein an. Die Szenen im Buch werden immer lauter, rasanter und verstörender. Sie dringen psychologisch in den Leser ein und reißen ihm regelrecht den Boden unter den Füßen weg. Gemeinsam mit dem Protagonisten stürzt man in eine Schwindelerregende Bodenlosigkeit mit dem Spiel mit der Wahrnehmung. Und genau dieses laute, tosende, ungerichtete Chaos halte ich nicht aus, nach der Hälfte musste ich das Buch erstmal weglegen.
Gwisdek geht mit seinem Roman durch eine Sache durch, durch die ich scheinbar noch nicht bereit bin zu gehen, aber ich wünschte ich wäre es.
Durch die Kunst der Meditation oder der Aufmerksamkeit versucht Gwisdek das Rätsel der Selbsterkenntnis zu lösen. Tja und ich kann Euch nicht sagen, ob er es schafft, denn ich habe das Buch ja immer noch nicht zu Ende gelesen.
Irgendwie ist das wie im Leben – sich der Welt einfach hingeben, loslassen, Widersprüche akzeptieren und immer schön entspannt bleiben – aber wenn das nur so einfach wäre...
Trotzdem, und vielleicht genau aus diesem Grund, ist das ja genau der richtige Roman für den Herbst:)

Donnerstag, 7. August 2014

Flucht aus dem Alltag



Nachdem ich das letzte mal über die Langeweile sprach,
möchte ich heute über den Rausch sprechen und zwar über den alltäglichsten Rauschzustand in unserer Gesellschaft: der Betrunkenheit.
Tja, Teufel Alkohol: Verführer, Zerstörer und Retter in der Not.
Also irgendwie kennt das doch jeder, man trifft sich mit Leuten abends zu einer illustren Runde in einer Bar und plötzlich bestellt da einer was Alkoholfreies, besorgte Blicke, die Frage ob alles OK sei, ob man krank sei... usw. usw. Ist es schon so normal zu trinken, dass es besorgniserregend ist, wenn einer nicht trinkt? Und wenn ja, wie sind wir nur dahin gekommen?

Wir alle wollen jemand ganz Besonderes sein, besondere Dinge tun, besonders gut aussehen, besonders kreativ sein, irgendwie aus der Masse rausstechen, erkannt werden. Doch genauso, wie wir das Bedürfnis haben ein Einzelner zu sein, uns von der Masse abzugrenzen, genauso leiden wir auch daran, an diesem Getrenntsein, getrenntvon den anderen und der Welt und irgendwie am Ende ist man ja doch immer allein. Und da kommt uns doch Dionysos, der griechische Weingott, als Sorgenbrecher ganz gelegen. Nach ein paar Bierchen/Weinchen, Schnäpschen sieht die Welt doch schon ganz anders aus. Denn im Rausch überwinden wir diese Trennung – im Rausch löst sich das Individuum auf, man gerät ganz Außer-sich und taucht ein in ein warmes Wir-Gefühl. Angst und Rausch sind meistens entgegengesetzte Pole, in der Angst ziehen wir uns in uns selbst zurück, deshalb spricht der Existenzialismus so gerne von der Angst und im Rausch öffnen wir uns der Welt und den Anderen. Im Rausch ist der Mensch in der Lage leichter Kontakt und Freundschaften zu schließen. Nietzsche spricht vom dionysischen Rausch, der die Grenzen der Individualität sprengt zu einem erhöhten Kraftbewußtsein und zu einer Erweiterung des Raum-Zeitgefühls führt, das Verhältnis zur Realität verändert und die oft ersehnte Selbstvergessenheit bringt.
Für Nietzsche äußert sich der Mensch im Rausch, singend und tanzend, als Mitglied einer höheren idealen Gemeinschaft: er hat das Gehen und Sprechen verlernt und noch mehr: er fühlt sich verzaubert und er ist wirklich etwas Anderes geworden.
Und Berlin ist die Stadt, die Alkoholiker gebiert. So stark hier der Druck der Individualität ist, so immense ist auch das Angebot sich Selbstvergessen zu dürfen. Doch das Angebot ist schon längst zu einem Gebot geworden. Willst Du ein Mitglied unserer lustigen Runde sein, dann trink! Aus dem abendlichen Vergnügen, wird schon bald Gewohnheit und aus der Gewohnheit eine Abhängigkeit.
Sucht lässt sich ganz allgemein definieren als die körperliche oder seelische Abhängigkeit von einem bestimmten Reizauslöser, dessen Wirkung eine so wohltuende Befriedigung verschafft, dass die Person nur noch an der kontinuierlichen Wiederholung dieser Stimulation trachtet, deren Aussetzen aber als unangenehm empfunden wird und zu Entzugssyndrom führt. Die Regelmäßigkeit ist also die Voraussetzung zur Entstehung einer Sucht. Die Sucht besteht, wenn eine Unterbrechung oder Beendigung der Gewohnheit zu einer spürbaren Beeinträchtigung körperlicher und geistiger Vermögen führt. Und ein fortgeschrittenes Stadium der Sucht ist erreicht, wenn das Rauschmittel gar keine Euphorie mehr freisetzt, sondern lediglich die Voraussetzung für die Aufrechterhaltung des ursprünglichen Normalbefindens ist.
Man kann wenigstens drei Gruppen von Süchtigen unterscheiden: Exzentriker, Melancholiker und Deserteure. Die Exzentriker sind Menschen, die nach dem höchsten Genuß oder nach Erkenntnissen streben, die über das normale Maß hinausgehen. Die Melancholiker leiden oft an Depressionen und verwenden Drogen als Medizin. Und die Deserteure sind die Menschen unter uns, die sich den Anforderungen der Umwelt nicht gewachsen fühlen und im Drogenrausch ihren Problemen entfliehen wollen. Während die Melancholiker und Deserteure vor den deprimierenden Inhalten ihres Bewußtseins flüchten und nach Ausschaltung suchen, sucht der Exzentriker eine Erweiterung des Bewußtseins, wobei in unserem Fall die Selbsterkenntnis nicht wirklich durch den Alkoholrausch zu erlangen ist.
Also an alle Deserteure des Alltags, an die Umnebelten der Nacht, wir können uns auch ohne Alkohol lieben! Und wenn nicht dann fällt mir nur einer dummer Spruch ein:
Wo früher unsere Leber war, ist heute eine Minibar. Prost!




Montag, 28. Juli 2014

Über die Monotonie des Alltags

hier der Link zum nach hören:



Heute möchte ich von der Monotonie des Alltags sprechen, oder auch weniger poetisch ausgedrückt, ich möchte über Langeweile reden.
Ausgelöst wurde dieses beunruhigende Gefühl der Leere durch das jähe Ende der Fußball-Weltmeisterschaft. Ich hätte nie gedacht, das ausgerechnet ich in ein WM-Loch fallen könnte, denn ich habe mich noch nie sonderlich für Fußball interessiert, aber dieses Jahr war es mal anders. Ich habe noch nie soviel und so begeistert Fußball geschaut wie in dieser WM, so regelmäßig und ausgelassen im Kreise meiner Liebsten verbracht, gejubelt und geschimpft. Ich fühlte mich wochenlang bestens unterhalten. Und jetzt? plötzlich wieder mal Zeit...
Doch bevor ich mich nun stresse neue Inspirationsquellen ausfindig zu machen, betrachte ich vielleicht einfach mal etwas genauer diese Ödnis der versiegten Quelle WM.
Was ist das überhaupt für ein Zustand – Langeweile?
Da liegt man nun handlungsunfähig auf seinem Bett, weiß nicht wohin mit sich und findet sich selbst erbärmlich in diesem Zustand, dabei haben schon viele große namenhafte Philosophen und Literaten, wie z.B. Heidegger und Nietzsche oder Goethe und Dostojewski ausgiebig über das Thema der Langeweile geschrieben, also sollte man diesem Phänomen vielleicht doch einmal etwas mehr Aufmerksamkeit schenken?
Die Philosophie sieht in der tiefen Langeweile eine existentielle Grunderfahrung und die Psychologie sieht darin die Chance neue Potentiale für sich zu entdecken. Klar die Langeweile ist nicht nur heilbringend. Man hat einen Zusammenhang zwischen Langeweile und Drogenmissbrauch hergestellt, sowie zur Aggression und Depression.
Der vormoderne Vorläufer der Langeweile ist die acedia – die sogenannte Trägheit. Die frühen Kirchenväter sahen in ihr die schlimmste aller Sünden, da sie der Ursprung aller anderen Sünden sei. Historisch betrachtet ist die Langeweile ein modernes Phänomen. Vor der Romantik war sie nur dem Adel und den Mönchen vorbehalten, sie war lange ein Statussymbol der oberen Schichten, denn nur dort verfügte man über die materiellen Mittel, die für ein Leben in Müßiggang erforderlich waren.
Heutzutage jedoch erheischt die Langweile jeden. Ich kenne kaum Leute, die sich noch nie in ihrem Leben gelangweilt hätten. Es ist heute auch verdammt schwierig geworden sich echtem Müßiggang hinzugeben, zu schnell wird aus Muße Langeweile. Irgendwie muss die Welt in Bewegung bleiben, sei es durch Arbeit oder Freizeit. Immer schön an der Oberfläche paddeln, bloß nicht aufhören, denn sonst versinkt man noch in tiefe Gefilde mit unangenehmen Erkenntnissen. Langeweile ist verbunden mit einem Zeit-Vertreib im wörtlichen Sinne, die Zeit, bzw. Ihre leere Dauer muss vertrieben werden, die Weile die vergeht ist zu lang und daher zu quälend. Die Jagd nach Vergnügen, zeigt die Angst vor dieser Leere. Und gerade weil wir in dieser Gesellschaft unter der Doktrin der Selbstverwirklichung stehen, wird der Alltag schnell zum Gefängnis. Die Langeweile oder die leere Zeit ist vielmehr eine Überzeugungs- oder Sinn-Leere, die aus einem Überdruss an Sinn-Angeboten entsteht. Selbstverwirklichung gut und schön aber nur welche Art von Selbst soll ich denn verwirklichen?
Und was war die WM für ein willkommenes Ereignis. Dieses Fieber, der Rausch der Emotionen, ein Schauspiel, ein Kampf – die WM hat uns zeitweise von dieser Frage befreit. Das Individuum konnte untertauchen in diesem unterhaltsamen Wahn der Masse.
Und jetzt plötzlich diese Erlebnisarmut, die Monotonie des immer Gleichen oder eben auch Alltag genannt.
Das Problem liegt wohl vor allem darin, zu akzeptieren, dass es nichts anderes gibt als kleine Augenblicke, und dass das Leben zwischen diesen Augenblicken eine Menge Langeweile bereithält.
Nun heißt es vier Jahre warten oder sich auf die EM freuen.
Doch noch was Positives - in der Langeweile ist die Leere der Zeit keine Ereignisleere, denn es gibt immer etwas in dieser Zeit und sei es nur der Anblick einer trocknenden Farbe oder ein Schattenspiel an der Wand. Akzeptieren wir diese Ruhe als wesentlichen Bestandteil des Lebens lässt sie sich auch ganz gut aushalten und falls sie einem doch zuviel wird, dann ist mein Geheimtip gegen die Langeweile, gute Musik auflegen und tanzen tanzen tanzen!

Montag, 7. Juli 2014

"Lieben" von Karl Ove Knausgard

hier der Link zum nach hören:

http://www.mixcloud.com/multicultfm/rubrik-martjes-kritiritik-lieben-karl-ove-knausgard-buch/

Karl Ove Knausgard, der Marcel Proust unserer Zeit
Ich habe mal gehört, dass in Norwegen das Smalltalk Gespräch Nummer eins auf Partys die Romane des norwegischen Schriftstellers Karl Ove Knausgard sind.
Knausgard hat in den letzten Jahren sechs autobiografische Mammutwerke von sich veröffentlicht und die ersten drei davon gibt es nun auch in deutscher Übersetzung. Im Original lautet der Titel dieser Bände „Min Kamp“, auf deutsch „Mein Kampf“, und konnte so unmöglich ins deutsche Übertragen werden, daher hat jeder Band einen eigenen neuen deutschen Titel: der 1. Band heißt Sterben, der 2. Lieben und der 3. Spielen.
Die Bände haben zusammen ca. 4000 Seiten, aber davon sollte man sich auf gar keinen Fall abschrecken lassen, denn diese Bücher haben höchstes Suchtpotential. Ich habe vor kurzem den Band Lieben verschlungen und möchte ihn Euch heute hier vorstellen und ans Herz legen.
In Lieben geht es um die erste Begegnung mit seiner Frau, die Entstehung ihrer Liebe, darüber was es bedeutet Vater zu werden und seine Kinder zu erziehen und die alltäglichen Höhen und Tiefen einer Ehe zu meistern.
Das Besondere aber an seinem Werk ist eine schonungslose Ehrlichkeit und die Kraft und Schönheit seiner Sprache. Er beschreibt en Detail ganz alltägliche Situationen mit einer Sprache, die uns in seine Welt aufsaugt und süchtig macht. Wir lernen ihn, den Schreiber und Protagonisten, bis in seine intimsten Gedanken kennen; seine inneren Monologe über seine Frau und seine Kinder, über seinen Kampf und seine Liebe, und mit der Zeit wird er wirklich zu einem guten Freund. Er geht hart mit sich selbst ins Gericht, wenn er über seine Unsicherheiten schreibt, und wie er sich manchmal, wie ein losgelöster Teil, wie ein Fremdkörper durch diese Welt bewegt. Es wird klar, dass sein Wahn alles genau aufschreiben zu müssen, für ihn notwendig ist, um die Wirklichkeit zu verstehen. Denn erst durch das Beschreiben der Menschen, Dinge und Stimmungen die ihn umgeben, erfahren Sie für ihn eine Bedeutsamkeit.
Seine Herangehensweise ist nicht ganz unumstritten. Knausgard hat mehrere Klagen wegen Verletzung des Persönlichkeitsrechts am Hals, seine Frau liegt nach der Lektüre seines Werkes in einer geschlossenen Anstalt und auf die Frage seiner Ex-Frau, warum er alles so rücksichtslos über sie aufgeschrieben habe, sagt er: „Das was ich gemacht habe, ist unverantwortlich.“ und weiter: Es fühle sich an, als habe er dem Teufel seine Seele verkauft – schließlich habe er im Tausch für die Bücher viel Geld und Ruhm erhalten. Aber seine Motive, sagt er, seien edel. Er habe einfach das Leben aufschreiben wollen, wie er es sieht.“
Karl Ove Knausgard ist der Marcel Proust unserer Zeit. Und das Schönste ist, wenn man das Buch zu Ende gelesen hat, dann geht es erst richtig los, denn da liegen noch viele viele tausende von Seiten vor einem. Ich wünsche Euch viel Spaß beim lesen!

Montag, 23. Juni 2014

Boyhood


hier der Link zum nach hören:




Beim flanieren durch diese Stadt, auf der Suche nach Magie, bin ich gestern Abend im Kino International gelandet und habe den Film Boyhood gesehen.
Boyhood ist wirklich ein grandioser Film über das Erwachsenwerden eines 6jährigen Jungen in Texas. Das besondere aber an diesem Film ist, dass er die Echt-Zeit zeigt, d.h. die 12 Jahre die in diesem Film vergehen, sind auch in der Realität vergangen, die Schauspieler sind gealtert und aus dem Jungen ist ein richtiger Mann geworden. Der Regisseur Richard Linklater ist bekannt für seine Langzeitprojekte. Seine Protagonisten philosophieren über das Leben, wie sie es lieben und daran verzweifeln aber immer weitermachen, so wie es läuft, mit allen Höhen und Tiefen.
So auch in seinem neuesten Film Boyhood. Der Film zeigt wichtige Stationen in der Entwicklung eines Kindes zum Erwachsenwerden, wobei er eher wie Kindheitserinnerungen funktioniert. Das heißt nicht die vermeintlich großen Ereignisse, wie Einschulung, Abiturübergabe, Abschlussball, erster Kuss usw. sind die Themen, sondern eher so stimmungshafte Momentaufnahmen, wenn man als Kind in einem Zustand des zeitlosen Daseins ist, und zum Beispiel in der Nachmittagssonne an einem Gartenzaun sitzt und die kleine Welt um sich herum beobachtet. Wie Mason, der Protagonist des Films, einen Kadaver eines Vogels beobachtet und so unvermittelt und unschuldig mit der Tatsache des Sterbens konfrontiert wird. Oder wenn er traurig dem Vater hinterher schaut, wenn dieser nach dem Streit mit der Mutter geht und so schon früh dem Gefühl des Verlassenwerdens ausgesetzt ist. Und die ersten pubertären Empfindungen gegenüber dem anderen Geschlecht, die in schüchternen Blicken und ersten Gesprächen Nachts an einem Pool einen ganz besonderen Moment zeichnen. Die Geschichte, die in diesem Film erzählt wird ist zwar fiktiv, aber so nah am wirklichen Leben und so charmant erzählt, dass der Zuschauer sich selbst an seine Kindheit und Jugend erinnert fühlt.

Der Film stellt die Frage, was ist Kindheit; ein offener Raum voller Möglichkeiten oder ein Käfig der Sozialisation? Die Frage nach Magie und die traurige Erkenntnis der Grenzen der Realität. Die Arbeit sich das Glück und die Schönheit der Welt immer wieder bewusst zu machen und das magische im Alltäglichen zu sehen. Die Frage nach der Zeit ist elementar für dieses Filmprojekt. Was ist Zeit sowohl als aktiver Faktor in einer Geschichte als auch im echten Leben.

Der Film hatte 39 Drehtage in 11 Jahren (von 2002-2013) und es ist erstaunlich, wie konstant die Dramaturgie und Qualität des Films ist, wenn man bedenkt, dass man in den ersten Einstellungen noch nicht wissen konnte wie der Film verlaufen wird, bzw. wie sich die Darsteller entwickeln werden. Es hätte ja sein können, dass der Protagonist irgendwann keine Lust mehr auf den Dreh gehabt hätte. Doch Linklater vertraute seinen Darstellern und seiner Idee und ihm ist ein großartiges stimmungsvolles Werk gelungen.
Am Ende des Film möchte man gleich noch mal den Anfang sehen und überprüfen, ob man in dem kleinen 6jährigen Jungen schon erkennen kann, ob da angelegt ist, was sich im laufe des Films entfaltet. Dass sich da ein ruhiger, sympathischer junger Mann mit einer sensiblen, kreativen Weltsicht entwickelt. Und man fragt sich, wie geht es jetzt wohl weiter? Jetzt geht es doch eigentlich erst los

Donnerstag, 19. Juni 2014

Magie des Alltags

Durch die Straßen von Berlin flanieren,
auf einem Dach in der Sonne liegen,
im Café Bücher lesen,
ins Theater oder Freiluftkino gehen,
oder Fußball schauen,
unterm Sternenhimmel am Wasser sitzen,
oder in bunten Gärten tanzen,
sich freuen, langweilen und einfach treiben lassen.
Durch diese Stadt, wach oder müde,
dumpf oder mit philosophischen Grundrauschen.
Dinge einfach mal nur toll oder doof finden,
einfach mal dumm sein,
oder auch ganz still und beobachten.
Durch diese Stadt, Bilder fangen und speichern;
den Geruch von heißem Beton nach dem Regen,
das morgendliche Gurren der Tauben,
der frühlingshafte Duft der Linden,
ein kaltes Radler in der Mittagshitze,
der Duft von Sonnencreme,
das Lächeln eines Fremden,
Feuerkäfer in Asphaltritzen,
durch den Sommerregen spazieren und 20 Euro finden,
Mauersegler am Abendhimmel beobachten,
in einer Hängematte einschlafen,
sich hinter den Häuserschluchten das Meer vorstellen,
auf Brandmauern glotzen und sich auch mal vom Grau inspirieren lassen.